Migration, Bevölkerungswachstum, schrumpfende Gesellschaften: Es gibt kaum Themen, die öffentlich emotionaler diskutiert werden. Der Demograf Wolfgang Lutz hat den großen, globalen Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen. Die Bildung der Bevölkerung – und im Speziellen jene der Mädchen – in die Entwicklungsanalysen einzubeziehen, hat sein Forschungsgebiet revolutioniert. Und führt zu anderen Prognosen, wenn es um die drängenden Fragen der Menschheit wie die Klimakrise geht.

„Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.“ So lautete die düstere Prognose. Es sei allerdings möglich, die Wachstumstendenzen zu ändern und einen ökologischen und wirtschaftlichen Gleichgewichtszustand herzustellen, heißt es weiter. Und: Je eher die Menschheit damit anfängt, desto besser. Das war 1972, also vor über 50 Jahren.

Die vom Thinktank Club of Rome in Auftrag gegebene und 1972 unter dem deutschen Titel „Die Grenzen des Wachstums“ erschienene Studie zur Zukunft der Menschheit einschließlich Wirtschaft und Umwelt wurde am Massachusetts Institute of Technology (MIT) erstellt. Die Studie beruht auf Computersimulationen. Donella und Dennis Meadows, sie Biophysikern, er Betriebswirt, und deren Mitarbeiter:innen am Jay Wright Forrester Institut für Systemdynamik simulierten die langfristigen Tendenzen und gegenseitigen Abhängigkeiten von Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Unterernährung, Ausbeutung von Rohstoffreserven und Zerstörung von Lebensraum.

Einen „Paradigmenwechsel“ nennt Wolfgang Lutz diese Arbeit. „Auch wenn inhaltlich vieles nicht stimmte, war es ein völlig neuer Ansatz, multidimensional und global zu denken“, ordnet der Demograf die damalige Forschungsarbeit ein. Auch wenn heutige Modellrechnungen wie jene des Weltklimarates ungleich detaillierter und umfangreicher sind, so wurde die Basis dafür Anfang der 1970er-Jahre am MIT gelegt.

In aller Kürze

Mit seiner Grundlagenforschung erweiterte Wolfgang Lutz die Demografie um weitere Faktoren wie Bildungsstruktur und Erwerbsbeteiligung. Mit entscheidenden Konsequenzen, denn die mehrdimensionale Betrachtung liefert einen höheren Erkenntnisgewinn. Die Aufnahme der Bildung der Bevölkerung – und im Speziellen jene der Mädchen – in die Entwicklungsanalysen hat sein Forschungsgebiet weiter vorangebracht.

Wolfgang Lutz blättert in einem großen Atlas
Der Demograf Wolfgang Lutz hat den großen, globalen Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen. Die Bildung der Bevölkerung – und im Speziellen jene der Mädchen – in die Entwicklungsanalysen einzubeziehen, hat sein Forschungsgebiet revolutioniert. © Herbert Neubauer/picturedesk
Hand eines Kindes und Hand eines älteren Menschen
Die Bildung beeinflusst den demografischen Übergang hin zu niedrigen Geburtenraten am stärksten, der Höchststand wird vermutlich zwischen 2070 und 2080 bei rund 10 Milliarden Menschen erreicht sein. © iStockphoto

„Der Geburtenrückgang hängt von der Bildung – im Speziellen jener der Mädchen – ab.“

Weitergeführt wurde dieser Ansatz am Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA), als dessen wissenschaftlicher Leiter Wolfgang Lutz derzeit fungiert. Das Herzstück der Forschung dieses Instituts im Schloß Laxenburg bei Wien ist die Weiterentwicklung systemanalytischer Ansätze zu genau diesen drängenden Fragen, die die Zukunft der Menschheit betreffen, wie Klimawandel, Energiesicherheit, Bevölkerungsalterung und nachhaltige Entwicklung. 1972 auf Initiative der USA und der UdSSR als Brückenfunktion zwischen Ost und West gegründet, betreiben heute dort rund 400 Wissenschaftler:innen aus 52 Ländern politisch relevante interdisziplinäre Forschung auf Gebieten, die zu umfangreich oder zu komplex sind, um von einem einzelnen Land oder einer einzelnen wissenschaftlichen Disziplin bewältigt zu werden.

Die 1972 veröffentlichte Studie des Club of Rome war auch Initialzündung für den damals jugendlichen Wolfgang Lutz, sich mit diesen grundlegenden Fragen auseinanderzusetzen. Nach dem Studium der Theologie, Philosophie und Mathematik an den Universitäten München, Wien und Helsinki ging er in die USA, um an der University of Pennsylvania Demografie zu studieren. Als der heute 66-Jährige nach Österreich zurückkehrt, herrscht im deutschsprachigen Raum eine „demografische Wüste“. Das hat historische Gründe: „Während der Nazizeit ist die Bevölkerungswissenschaft in Rassenlehre abgedriftet und nach 1945 in der Versenkung verschwunden“, erzählt Lutz. Dass er angesichts dessen nicht wieder in die USA zurückkehrt, ist einem Glücksfall zu verdanken: Nathan Keyfitz, der als Begründer der mathematischen Demografie gilt, übernimmt als emeritierter Harvard-Professor 1983 die Leitung des Bevölkerungsprogramms am IIASA.

Wolfgang Lutz geht ans IIASA und hier gelingt ihm eine Pionierleistung: Er erweitert die traditionell eng gefasste Demografie, die bis dahin hauptsächlich Bevölkerungsgröße und Altersstruktur berücksichtigt hatte, um weitere Faktoren wie Bildungsstruktur und Erwerbsbeteiligung. Mit entscheidenden Konsequenzen, denn sieht man sich die Bevölkerungsentwicklung multidimensional an, kommt man zu anderen Ergebnissen. „Bezieht man neben der Zahl der Menschen auch ihre Fähigkeiten (Produktivität) in die Analysen ein, sehen Prognosen zu Problemen wie Alterung und Klimawandel anders aus“, erläutert der Demograf und nennt ein Beispiel: „In Ländern mit niedriger Geburtenrate wie China ist die junge Bevölkerung viel besser ausgebildet als die alte, damit produktiver und kann die geringe Zahl besser kompensieren.“

Zur Person

Wolfgang Lutz ist interimistischer wissenschaftlicher Leiter des IIASA, dessen World Population Program er bereits seit 1994 leitet. Von 2002 bis 2022 war er Direktor des Instituts für Demografie der ÖAW und seit 2008 Professor zuerst an der Wirtschaftsuniversität Wien und seit 2019 an der Universität Wien. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt er 2008 und 2017 ERC Advanced Grants des Europäischen Forschungsrats und 2010 den FWF-Wittgenstein-Preis. Mit den Mitteln dieser Forschungsförderung bündelte er 2010 die Forschungseinrichtungen unter dem Dach des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital. Lutz studierte Theologie, Philosophie und Mathematik an den Universitäten München, Wien und Helsinki sowie Demografie an der Universität von Pennsylvania.

Der Demograf leitet das „World Population Program“ der IIASA. Seit 2002 ist Lutz Direktor des „Vienna Institute of Demography“ (VID) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). 2010 bündelte er die Forschungseinrichtungen unter dem Dach des „Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital“.

Die zwei bestimmenden Faktoren für das Wachstum einer Bevölkerung sind Geburten- und Sterberaten. Wenn in einer Gesellschaft die Sterberaten aufgrund besserer medizinischer Versorgung und besserer Ernährung sinken und dann – mit etwas Verzögerung – die Geburtenraten ebenfalls sinken, spricht man in der Demografie von der demografischen Transition. „Die Tatsache, dass dieser Wandel sich in unterschiedlichen Gesellschaften in unterschiedlichen Phasen befindet, ist aktuell eine der größten globalen Herausforderungen: Afrika befindet sich noch in einer Wachstumsphase während in Europa und Ostasien die Bevölkerungen altern und ohne Zuwanderung schrumpfen“, erläutert Lutz.

Denn dort, wo bei sinkenden Sterberaten die Geburtenraten nach wie vor hoch sind, wächst die Bevölkerung sehr schnell und der Migrationsdruck steigt wie in Afrika und Westasien. Eine demografische Entwicklungsphase, in der Europa Anfang des 20. Jahrhunderts war. „In Österreich ist die Bevölkerung um 1900 stark gewachsen und es gab massive Auswanderungswellen nach Übersee. Das vergessen wir manchmal“, zieht Lutz einen historischen Vergleich. Der große Unterschied: Damals gab es leere Kontinente, die offen waren für Einwander:innen. Für Afrikaner:innen ist es heute schwieriger, Aufnahme zu finden.

Wann der Geburtenrückgang einsetzt, hängt entscheidend von der Bildung einer Gesellschaft – und im Speziellen von der Bildung der Mädchen – ab. Denn je besser Frauen gebildet sind, umso später und umso weniger Kinder bekommen sie. Mit der Einbeziehung von Bildungskategorien in die demografischen Methoden setzte Lutz einen weiteren wichtigen Meilenstein für die Bevölkerungswissenschaften. „Von Bildung hängt so viel ab: Gesundheit, Lebenserwartung, Erwerbsbeteiligung, Einkommen – bis hin zur Demokratisierung“, sagt der FWF-Wittgenstein-Preisträger. Bildung spielt auch eine wichtige Rolle für den Erfolg von Integration: und zwar sowohl jene der Zugewanderten als auch jene der Empfängerländer, weil „gebildete Menschen meist flexibler sind“, so der Experte.

Einen weiteren wichtigen Schritt setzte der vielfach ausgezeichnete Wissenschaftler 2011 mit der Gründung des Wittgenstein Centre – aus Mitteln des 2010 vom FWF verliehenen FWF-Wittgenstein-Preises. Sein erklärtes Ziel dabei war, die Kompetenzen von drei Forschungsteams zusammenzubringen, die er zuvor bereits geleitet hatte: das Institut für Demografie der Akademie der Wissenschaften, das World Population Program des IIASA sowie die Abteilung für Demografie der Wirtschaftsuniversität Wien sowie später das 2019 gegründete Department of Demography der Universität Wien. 2014 erschien die erste große Publikation des Wittgenstein Centre, „World Population & Global Human Capital in the Twenty-First Century“, in der für alle Länder dieser Welt Szenarien der Entwicklung des Humankapitals untersucht wurden. Heute gilt Wien als das Epizentrum der Demografie in Europa.

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