Der Übergang vom Römischen Reich zur frühmittelalterlichen Welt ist ein in vielen Aspekten unterbelichteter geschichtlicher Abschnitt. Der Wiener Historiker Walter Pohl hat eine neue Betrachtungsweise dieser Zeit etabliert. Er fragt danach, wie Völker und die einhergehenden sozialen und ethnischen Identitäten damals überhaupt entstanden sind – und welche Folgen sie für die nachfolgenden Epochen hatten. Im Vergleich zu weiteren Kulturkreisen werfen die Erkenntnisse ein neues Licht auf die globale Zivilisationsgeschichte.

Eine Taufe in der heute französischen Stadt Reims um das Jahr 500 unserer Zeitrechnung sollte bestimmend für das gesamte europäische Mittelalter sein. Im Zuge des Verfalls der römischen Reichsstrukturen waren viele Städte zu lokalen Königreichen geworden, regiert von ehemals römischen Statthaltern meist fränkischer Herkunft. Einer von ihnen, Chlodwig aus dem Haus der Merowinger, hatte viele von ihnen besiegt und zu einem Frankenreich zusammengeführt. In Reims ließ sich Chlodwig schließlich zum Christentum bekehren und taufen. Der Frankenkönig mochte sich davon göttlichen Beistand am Schlachtfeld und einen Zugewinn weltlicher Macht versprechen. Doch die Wirkung dieser Bekehrung ging weit darüber hinaus: Chlodwig I. prägte damit ein Modell mittelalterlicher Herrschaftssysteme vor, in denen ein von Gott legitimierter Herrscher im Namen eines Volkes regierte. Das war das Modell, das sich in Europa etablierte und letztlich in die Entstehung moderner Nationen mündete.

Doch wer war überhaupt das „Volk“, über das Chlodwig herrschte? Aus ethnischer Sicht war es keinesfalls einheitlich. Die germanischen Franken und andere kriegerische Zuwanderer waren nur eine Minderheit. Der viel größere Teil waren Galloromanen – also Gallier, die durch das nun verschwundene weströmische Reich geprägt waren. Chlodwigs Frankenreich war eine Mischkulanz aus römischen, gallischen und germanischen kulturellen Versatzstücken, zusammengehalten von einem Volksbegriff, der sich auf neue Weise auf einen allmächtigen Gott bezog.

In aller Kürze

Mit seinen Forschungsarbeiten revolutioniert Walter Pohl das lange bestehende Geschichtsbild über Völkerwanderungen im frühen Mittelalter. Seine Arbeiten zeigen, dass die Zugehörigkeit zu einem Volk nicht biologisch festgelegt, sondern vielmehr historisch und kulturell gewachsen ist. Die von Walter Pohl initiierten weltumspannenden Vergleiche der Volks- und Identitätsbildung trugen zu einer neuen Betrachtungsweise historischer Gegebenheiten bei.

Portrait Walter Pohl
Der Historiker Walter Pohl ist FWF-Wittgenstein-Preisträger und zählt zu den weltweit gefragtesten Expert:innen für das frühe Mittelalter. © FWF/Luiza Puiu
Illustration einer Weltkarte
Mit seinen Forschungsarbeiten revolutioniert Walter Pohl das lange bestehende Geschichtsbild über die weltweiten Völkerwanderungen im frühen Mittelalter. © Marjan Blan/Unsplash

Ungeachtet ihrer tatsächlichen Genese wurden Völker wie jenes der Franken in der späteren Geschichte vielfach als naturgegebene Einheiten betrachtet, die eine selbstverständliche Grundlage für die moderne Nationenbildungen abgaben. Doch warum zerfiel das weströmische Reich überhaupt in Königreiche, die nach Völkern benannt waren? Wie kann die Vorstellung eines Volkes mit abgrenzbarem Herrschaftsraum überhaupt entstehen? Und welche Rolle spielte die christliche Religion in diesem Kontext? Der Historiker Walter Pohl erkannte, dass diese so grundlegenden – und eigentlich naheliegenden – Fragen vor ihm noch niemand in einem wissenschaftlichen Kontext gestellt hatte. Pohl hatte gemeinsam mit seinem akademischen Lehrer Herwig Wolfram über die Ethnogenesen des Frühmittelalters gearbeitet – also an der Frage, wie germanische und andere Völker entstanden sind. Inspiriert davon entwickelte er neue theoretische Konzepte, die den Prozess der Völker- und Identitätsbildung auf eine grundlegende Weise betrachten. Der Blick in die Geschichte anderer Kulturkreise zeigt, dass der Zerfall von Imperien keinesfalls notwendigerweise in die Herausbildung neuer Völker und ihrer Königreiche mündet. Meist wurden neue Mächte nach den herrschenden Dynastien benannt. Was war in Europa also anders? Antworten auf diese neuen Fragen zu finden, sieht Pohl bis heute als seinen größten Erkenntnisschritt.

Der Historiker zeigte, dass das frühe Mittelalter mit seinen umfassenden Wanderbewegungen und vielen kriegerischen Auseinandersetzungen neue soziale und politische Identitäten hervorbrachte. Die fränkische Identität vereinte etwa germanische Namen, eine romanische Sprache und die römisch inspirierte Kultur. Pohl verweist auf eine Überlieferung aus dem 6. Jahrhundert, in der ein Mann mit dem römischen Namen Lupus (lateinisch „Wolf“) seinen Sohn Romwulf nannte – ein zweideutiger Name: Je nachdem, ob man ihn germanisch oder lateinisch verstehen wollte, bedeutete er der „ruhmreiche“ oder der „römische“ Wolf. „Das Beispiel veranschaulicht, dass man von einem Römer zum Franken werden konnte. Ethnische Identität war etwas, das man auch annehmen konnte“, sagt Pohl. Auch in seinem Projekt „HistoGenes“ zu verschiedenen Bevölkerungen, in denen umfassende Genanalysen die archäologische und historische Spurensuche ergänzen, zeigte sich in vielen Fällen, dass die biologische Gemeinschaft – also die Abstammung – nicht notwendigerweise deckungsgleich mit der ethnischen und kulturellen Gemeinschaft ist.

Die Reiche der Franken, Goten oder Vandalen, in die das antike Rom zerfiel, verschwanden mit der Zeit wieder. Doch das Konzept des Königtums von Gottes Gnaden, das von einem bestimmten Volk abgeleitet wird, blieb und wurde in den ganzen europäischen Raum exportiert. Im Lauf der Geschichte versuchten Herrscher:innen immer wieder, an die Idee des römischen Imperiums anzuknüpfen – das beste Beispiel ist Napoleon, der sich selbst als neuen Cäsar betrachtete. Doch eine Rückkehr zu dauerhaften imperialen Großreichen in West- und Mitteleuropa war trotz aller Versuche nicht möglich – ganz im Gegensatz zur Geschichte anderer Weltgegenden. Dass ein geeintes und mächtiges China der „Naturzustand“ sei und Zeiten des Zerfalls eine Störung dieser Ordnung, ist dort bis heute politischer Konsens. Und auf das Auseinanderbrechen des großen mittelalterlichen Abbasiden-Kalifats im 10. Jahrhundert folgten zwar eher kurzlebige dynastische Herrschaften, die kaum Spuren in der politischen Welt nach ihnen hinterließen, doch den Osmanen gelang eine neue imperiale Integration.

 

Die von Pohl initiierten weltumspannenden Vergleiche der Volks- und Identitätsbildung trugen zu einer neuen Betrachtungsweise historischer Gegebenheiten bei. Es entstand ein frisches Interesse für die Forschung an einem „globalen Mittelalter“, die in weltweiten Wissenschaftsnetzwerken vorangetrieben wird. Hier soll die „europäische Brille“, die bei historischen Untersuchungen einen westlichen Maßstab anlegt, abgenommen werden. „Junge Wissenschaftler:innen müssen neue Theorien aus ihren Quellen heraus entwickeln“, sagt Pohl. „Der komplexe Vergleich zwischen Religionen, Völkern, Imperien und Identitäten muss ein Bottom-up-Prozess sein, keine Top-down-Beurteilung aufgrund bestehender historischer Konzepte.“ Dieser Forschungsansatz wird im Exzellenzcluster „EurAsia“ des FWF weiterentwickelt.

In der globalen und unvoreingenommen vergleichenden Betrachtung kann das Geschichtsdenken auf eine breitere theoretische Basis gestellt und vertieft werden. Das Ende der chinesischen Han-Dynastie im 3. Jahrhundert glich etwa in vielen Aspekten dem Ende des Römischen Reiches. Hier waren es nicht germanische Barbaren, sondern nomadisierende Steppenvölker, die nach und nach in vielen Regionen die Macht übernahmen. Die Nördliche Wei-Dynastie war damals das erfolgreichste dieser Nomadenreiche und eroberte einen großen Teil Nordchinas. Ähnlich wie Chlodwig, der sich taufen ließ, beging auch deren Kaiser Xiaowen fast gleichzeitig einen Traditionsbruch: Er wandte sich im Jahr 494/95 von der nomadischen Kultur ab und verordnete eine Integration in die Kultur Chinas – ein Schritt, der letztlich zum Wiedererstarken des chinesischen Imperiums führte. In Europa gelang hingegen die Integration in den neuen „barbarischen“ Königreichen, innerhalb derer sich kulturelle Unterschiede allmählich anglichen. Man sieht: Die Entscheidungen an den Weggabelungen der Geschichte können die Welt auf Jahrtausende verändern.

Zur Person

Walter Pohl ist Historiker und Spezialist für das frühe Mittelalter. Er forscht am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, dessen Direktor er bis 2021 war. Zudem war er Professor am Institut für Geschichte und am Institut für Österreichische Geschichtsforschung der Universität Wien. Der FWF-Wittgenstein-Preisträger gehört zu den führenden Expert:innen der sogenannten „Völkerwanderungszeit“, er wurde mit mehreren ERC-Grants ausgezeichnet. Der FWF unterstützte in den letzten 20 Jahren zahlreiche seiner Forschungsprojekte.

Ab 2010 leitete Walter Pohl einen vom FWF-geförderten Spezialforschungsbereich. In einem damals aufgenommenen Videoporträt erzählt er, wie Universalreligionen die Herausbildung einzelner Gemeinschaften und Identitäten beeinflussten.

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