Informationen zu „unconscious bias“ in Entscheidungsverfahren
Der Begriff unconscious bias (unbewusste Vorurteile) bezeichnet das Phänomen kognitiver Verzerrungen. Er beschreibt den Denkprozess, die Welt durch Kategorisierung zu organisieren. Jeder Mensch macht diese gedanklichen Abkürzungen, da sie die Orientierung im Alltag erleichtern. Insofern ist bis zu einem gewissen Grad jede/r voreingenommen.
Unbewusste Vorurteile können bei Entscheidungen eine Rolle spielen. Sie beeinflussen vermeintlich objektive Bewertungen und können somit auch im wissenschaftlichen Begutachtungsprozess dem Anspruch einer fairen Beurteilung – zum Beispiel von Forschungsanträgen – im Weg stehen.
Mit den vorliegenden Informationen will der FWF wissenschaftliche Erkenntnisse zu diesem Thema zusammenfassen und internationale Lernerfahrungen anderer Organisationen zugänglich machen. Darüber hinaus soll das Bewusstsein von Entscheidungsträger/inne/n für mögliche unbewusste Vorurteile bei der Beurteilung wissenschaftlicher Leistungen geschärft werden. Auch soll insgesamt für das Thema sensibilisiert werden, um allfällige Folgen solcher unbewusster Vorurteile für in der Wissenschaft unterrepräsentierte Gruppen zu verhindern.
Ungleichheiten in der Wissenschaft
Ungleichheiten zwischen Forschenden zeigen sich in der europäischen Wissenschaftslandschaft1 zum einen im Vergleich der Wissenschaftsdisziplinen und zum anderen im Hinblick auf die Hierarchieebenen. Frauen sind in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (STEM) unterrepräsentiert und Männer2 in Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Auf höheren Hierarchieebenen sind Frauen deutlich unterrepräsentiert. Im Forschungssystem (insbesondere in den STEM-Disziplinen) spricht K. E. Grogan 2019 in diesem Zusammenhang von der „Leaky Pipeline“:

Fig. 1: Die Leaky Pipeline von Frauen in STEM, adaptiert nach K. E. Grogan 2019
Diese Ungleichheiten sind für das Recruiting von Frauen3 und für die Vergabe von Forschungsgeldern relevant: Im internationalen Vergleich4 beantragen Frauen seltener und geringere Summen an Forschungsgeldern als ihre männlichen Kollegen und haben oft trotz gleicher Qualifikation eine geringere Erfolgswahrscheinlichkeit.5 Topqualifizierte Wissenschaftlerinnen können dadurch ihr Potenzial nicht entfalten und kehren in manchen Fällen der Wissenschaft den Rücken – ein erheblicher Verlust für Wissenschaft und Forschung.
Die oben angesprochenen kognitiven Verzerrungen sind in den letzten Jahren immer mehr ins Licht der Forschung gerückt, nicht zuletzt aufgrund der Arbeiten von Daniel Kahneman6. Er zeigt, dass Entscheidungen selten aufgrund rein rationaler Kriterien getroffen werden, sondern durch unbewusste Vorurteile beeinflusst und verzerrt werden. Darüber hinaus stehen laut Kahneman unbewusste Vorurteile oft im Widerspruch zu formulierten Überzeugungen und Werten.
Förderquoten im FWF
Der FWF legt seit vielen Jahren besonderes Augenmerk auf die faire Verteilung seiner Fördermittel. Dieses Prinzip ist auch im Leitbild7 festgehalten. Das Entscheidungsverfahren wird regelmäßig reflektiert, evaluiert und angepasst. Der FWF strebt fairen Wettbewerb und eine möglichst objektive Vergabe auf Basis internationaler Begutachtung an. Mit Erfolg: Im FWF sind Frauen genauso erfolgreich wie ihre männlichen Kollegen – es gibt keine nennenswerten Unterschiede in den Bewilligungsquoten8 zwischen den Geschlechtern. So wurde im Rahmen einer Evaluierung des FWF-Entscheidungsverfahrens bereits 2010 bestätigt, dass Antragstellerinnen gleichbehandelt werden. Zudem steigt der Anteil von Projekten, die von Forscherinnen beim FWF beantragt werden, kontinuierlich, auf zuletzt 34,6 %.9
Trotz dieser guten Ausgangslage ist sich der FWF seiner Verantwortung bewusst und setzt weitere Schritte um sicherzustellen, dass die bisherigen Erfolge erhalten bleiben und Verbesserungspotenziale – etwa bei der Antragslage – tatsächlich ausgeschöpft werden. So wird derzeit das eigene Entscheidungsverfahren im Rahmen des EU-Projekt GRANteD erneut unter die Lupe genommen (GRANteD = Grant Allocation Disparities from a Gender Perspective). In diesem Projekt wird das neue Karriereförderungsprogramm ESPRIT mit einem Fokus auf Chancengleichheit und Gender-Bias im Entscheidungsverfahren wissenschaftlich begleitet. Gemeinsam mit anderen europäischen Forschungsfördergeber/inne/n gehört der FWF auch dem GRANteD-Stakeholder Committee an. Ziel des Projektes ist es, einen möglichen (Gender-)Bias zu identifizieren und letztendlich durch Ver-fahrensanpassungen zu verhindern.
Details für Gutachter/innen
Handlungsempfehlungen für die Begutachtung wissenschaftlicher Projektanträge
1 European Commission 2018
2 Organisationsleitlinien für eine genderneutrale Sprache, die auch nichtbinäre Personen einschließt, sind derzeit in Ausarbeitung
3 Sheltzer et al. 2014, Dutt et al. 2016, Schmader et al. 2007, Lerchenmueller et al. 2018, Van Dijk et al. 2014
4 European Commission 2018, European Research Council 2018, Van der Lee et al. 2015
5 Hechtman et al. 2018, National Science Foundation 2017, Marsh et al. 2009, Witteman et al. 2018, Kaatz et al. 2016, Sege et al. 2015, Lincoln et al. 2012, Murray et al. 2018
6 Tversky und Kahneman 1974